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Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische (Bek. des BMA v. 1.12.1997 - IVa 4-45206, BArbBl 12/1997, S. 31) |
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Toxische Polyneuropathien oder Enzephalopathien können durch die Einwirkung neurotoxischer organischer Lösungsmittel entstehen. Gesichert neurotoxische Lösungsmittel sind nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand:
Solche neurotoxischen Lösungsmittel können in zahlreichen Produkten einzeln oder in Gemischen mit anderen Lösungsmitteln zur Anwendung kommen (1):
Organische Lösungsmittel sind in der Regel leicht flüchtig, d. h., daß sie auch bei niedrigen Temperaturen rasch verdampfen. Unter ungünstigen Ventilationsbedingungen können deshalb höhere Konzentrationen in der Atemluft resultieren.
Direkter Hautkontakt kann gegebenenfalls die Lösungsmittelaufnahme steigern.
Erhöhte Risiken bestehen bei folgenden Tätigkeiten:
Abbeizen, Versiegeln. großflächiges Aufbringen von Klebstoffen oder Lacken.
Besondere Risikoberufe sind: Bodenleger, Parkettleger, teilweise Tankreiniger, Säurebaumonteure.
Organische Lösungsmittel werden aufgrund ihrer Flüchtigkeit vorwiegend über die Lungen eingeatmet, zum Teil auch durch die Haut resorbiert. Nach der Aufnahme verteilen sie sich im ganzen Organismus, insbesondere auch im Nervensystem. Anschließend werden sie zum Teil unverändert wieder abgeatmet und zum Teil metabolisiert über die Nieren ausgeschieden. Die Eliminationshalbwertzeiten differieren für die einzelnen Lösungsmittel zwischen wenigen Stunden bis zu zwei Tagen (1).
Grundsätzlich können alle organischen Lösungsmittel über kurzfristige
Membranwirkungen an der Nervenzelle zu flüchtigen pränarkotischen Symptomen und sogar zu
einer Narkose führen (2). Die eigentliche Dauerwirkung neurotoxischer Lösungsmittel mit
dem Endergebnis einer Polyneuropathie oder Enzephalopathie beruht dagegen auf ihrer
Biotransformation zu neurotoxischen Metaboliten. Die Angriffspunkte dieser Metaboliten in
der Nervenzelle sind unterschiedlich und zum Teil noch nicht geklärt. 2,5-Hexandion als
neuroxischer Metabolit von n-Hexan und Methylbutylketon beeinträchtigt z. B. den axonalen
Transport. Folgen sind zunächst Funktionsstörungen (Parästhesien,
Sensibilitätsausfälle) im weiteren Verlauf auch morphologische Veränderungen mit
primär axonalen Schädigungen (3). Histologisch finden sich große paranodale
Axonauftreibungen, Akkumulation von Neurofilamenten, Glykogengranula usw.. Diese
Veränderungen sind bei Expositionskarenz grundsätzlich reversibel. Außerberufliche
neurotoxische Faktoren (z.B. Alkohol, Medikamente oder Erkrankungen wie diabetes mellitus
können diesen Verlauf beeinflussen.
Polyneuropathie
Typisch für eine neurotoxische Polyneuropathie sind symmetrisch-distale, beinbetonte, sensomotorische Ausfälle mit strumpf- bzw. handschuhförmiger Verteilung. Anamnestisch ist wichtig, daß die Sensibilitätsstörungen von distal nach proximal aufsteigen und daß die Parästhesien häufig nachts zunehmen. Objektiv lassen sich je nach Krankheitsausprägung distal symmetrische Sensibilitätsstörungen für Vibrationsempfinden, Lageempfinden, Ästhesie, Algesie und Zweipunktdiskrimination erkennen. Im weiteren Verlauf werden Reflexabschwächungen oder Areflexie, Störungen der autonomen Nervenversorgung, Verminderung der sensiblen und motorischen Nervenleitgeschwindigkeiten und distalen Latenzen sowie neurogene Schädigungs-Muster im EMG nachweisbar. Diese Polyneuropathien entwickeln sich im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Lösungsmittelexposition, d. h. in der Regel mit einer Latenz von wenigen Tagen. Latenzzeiten von mehr als 2 Monaten sprechen gegen einen ursächlichen Zusammenhang. Lösungsmittelbedingte Polyneuropathien heilen in leichten Fällen innerhalb von 10 Monaten vollständig aus; aber auch schwere Verläufe bilden sich spätestens nach 3 Jahren vollständig oder weitgehend zurück. Ein Fortschreiten der Erkrankung nach mehrmonatiger Expositionskarenz schließt eine Verursachung durch Lösungsmittel aus.
Differentialdiagnostisch ist in erster Linie an alkoholische oder diabetische Polyneuropathien zu denken. Asymmetrische, multifokale, rein motorische oder autonome Neuropathien schließen eine Verursachung durch Lösungsmittel weitgehend aus.
Toxische Enzephalopathie
Eine toxische Enzephalopathie äußert sich durch diffuse Störungen der Hirnfunktion. Konzentrations- und Merkschwächen, Auffassungsschwierigkeiten, Denkstörungen, Persönlichkeitsveränderungen oft mit Antriebsarmut, Reizbarkeit und Affektstörungen stehen im Vordergrund.
Im klinischen Verlauf unterscheidet man folgende Schweregrade (4):
Schweregrad I:
Erschöpfung. Ermüdbarkeit, Konzentrationsschwäche, Merkschwäche, allgemeine
Antriebsminderung.
Schweregrad II A:
Ausgeprägte und dauerhafte Persönlichkeitsveränderungen. zunehmende Merk- und
Konzentrationsschwäche, Stimmungsschwankungen mit depressivem Einschlag,
Affektlabilität. Nachweis testpsychologischer Leistungsminderungen.
Schwergrad II B:
Zusätzlich zu den unter II A aufgeführten psychischen Störungen lassen sich leichte
neurologischc Befunde wie Tremor, Ataxie und andere Koordinationsstörungen nachweisen.
Schwergrad III:
Demenz mit ausgeprägten Intelligenz- und Gedächtnisstörungen, Nachweis hirnatrophischer
Veränderungen bei cranialer Computertomographie oder Kernspintographie. Schweregrad III
wird bei schweren exogenen (Alkohol) und endogenen Intoxikationen beobachtet. Bei
chronischen Lösungsmittelintoxikationen ist er in den letzten Jahren nicht mehr
beschrieben worden.
Toxische Enzephalopathien treten in. der Regel noch während des Expositionszeitraums auf. Eine Latenz von mehreren Monaten oder gar Jahren nach Expositionsende spricht gegen eine lösungsmittelbedingte Enzephalopathie.
Die Diagnose stützt sich auf die anamnestischen Angaben und den psychopathologischen Befund. Wichtige anamnestische Hinweise sind Alkoholintoleranz und häufige pränarkotische Symptome im unmittelbaren Zusammenhang mit der Lösungsmittelexposition (Benommenheit. Trunkenheit, Müdigkeit, Übelkeit, Brechreiz, aber auch Zustände von Euphorie). Der psychopathologische Befund muß durch psychologische Testverfahren objektiviert werden. Bei diesen Testverfahren sollen untersucht werden: die prämorbide Intelligenz, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, Psychomotorik, Wesensveränderungen, Befindlichkeitsstörungen. Neurophysiologische Untersuchungen (EEG, evozierte Potentiale, Nervenleitgeschwindigkeit) sowie bildgebende Verfahren (Computertomogramm, Kernspintomogramm) ergeben bei den lösungsmittelverursachten Enzephalopathien in der Regel Normalbefunde. Sie sind jedoch für die Differentialdiagnostik von Bedeutung. Erhöhte Werte im Biomonitoring (Lösungsmittel oder deren Metabolite im Blut oder Urin) können die Diagnose stützen.
Die Prognose der toxischen Enzephalopathie hängt vom Schweregrad ab. Leichte Enzephalopathien vom Typ I heilen in der Regel nach spätestens 2 Jahren vollständig aus. Mitteischwere Enzephalopathien vom Typ II zeigen eine stark verzögerte Heilungstendenz oder bessern sich nur geringfügig, so daß Defekte bleiben können. Schwere Enzephalopathien vom Typ III bessern sich nicht oder nur ausnahmsweise, sind aber nicht progredient. Für alle Schweregrade gilt, daß eine Progredizienz der Enzephalopathie nach mehrwöchiger Expositionskarenz gegen Lösungsmittel als Ursache spricht.
Differentialdiagnostisch sind in erster Linie eine Multiinfarkt-Demenz, ein Morbus Alzheimer und eine alkoholtoxische Enzephalopathie auszuschließen. Darüber hinaus ist die gesamte Differentialdiagnostik exogener und endogener toxischer Enzephalopathien, traumatischer Psychosyndrome, Affektpsychosen, neurotischer Fehlentwicklungen usw. zu berücksichtigen.
Für einige Lösungsmittel sind weitere Krankheitsmanifestationen beobachtet worden: isolierte oder multiple Hirnnervenläsionen durch Trichlorethen, epileptische Anfälle durch Benzol, Parkinson-Syndrome durch Methanol, Kleinhirnataxien durch Toluol, halluzinatorische Psychosen durch Toluol, Dichlormethan und Tetrachlorethen, partielle Querschnittslähmungen durch Trichlorethen. Diese Manifestationen sind jedoch selten und treten nur bei sehr schweren Vergiftungen auf. Sie fallen nicht unter den Geltungsbereich dieser Berufskrankheitennummer. Sie können ggf. unter den Berufskrankheitennummern der jeweiligen Substanzen entschädigt werden.
1. Konietzko, J.: Organische Lösungsmittel. In: Konietzko, J.; Dupuis, H. (Hrsg.): Handbuch der Arbeitsmedizin. Ecomed Verlag Landsberg (1989)
2. Slater, S. J.; Ho. C.; Taddeo, F. J. et al.: Contribution of hydrogen bending to lipid-lipid interactions in membranes and the role of lipid order - effects of cholesterol, increased phospholipid unsaturation, ethanol. Biochem. 32, 3714-3721 (1993)
3. Altenkirch, W.; Wagner, H.; Stoltenburg-Didinger, G. et al.: Potentiation of hexacarbon neurotoxicity by methylethyl-ketone (MEK) and other substances: clinical and experimental aspects. Neurobehav. Toxicol. Teratol. 4, 623-627 (1982)
4. WHO: Chronic Effects of Organic Solvents on the Central Nervous System and Diagnostic Criteria. - Document 5, Copenhagen (1985)
5. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Bekanntmachung einer Empfehlung
des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA - Sektion "Berufskrankheiten":
"Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren
Gemische". Bundesarbeitsblatt, H. 9. 44-49 (1996)
Wir haben das Merkblatt für
Sie abgeschrieben und versucht, den Originalwortlaut ganz genau zu übertragen.
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© E.Münzberger ![]() |
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Letzte Überarbeitung: 15.4.2001 |